Dezember 2022
Hans Hollein: Schlüsselwerk refurbished und reloaded - das ehemalige Kerzengeschäft Retti in Wien.
Wien kann sich freuen. Ein Schlüsselwerk eines der bedeutendsten Architekten Österreichs wurde restauriert und kürzlich fertiggestellt.
Kleine Architektur ganz groß. Das winzige Kerzengeschäft Retti am Kohlmarkt 10 im Zentrum Wiens aus dem Jahr 1966 war Hans Holleins erster Auftrag und markierte den Beginn seiner internationalen Karriere.
Hollein setzte seine hermetische, an der Raumfahrtästhetik orientierte Retti-Portalgestaltung aus Aluminium mit schmalem Eingang bewusst kontrastierend zur stark gegliederten und reich verzierten historistischen Fassade mit Schnörkeln, Voluten, Loorbeerkränzen und Konsolen.
So etwas hat es in Wien noch nie gegeben.
Holleins Architektur sorgte im damals biederen, eintönigen Wien für Aufsehen und kam wie aus einer anderen Zeit und Welt. Da wehte plötzlich ein neuer architektonischer Wind in die Innenstadt. Wie ein außerirdisches Ufo landete Hollein sein Geschäftslokal präzise im Zentrum.
Holleins Begeisterung und Interesse für die Raumfahrt und das Weltall zeigte sich auch in einem anderen Detail während der Bauzeit des Geschäftslokals Retti. Für die April-Ausgabe 1965 des Modemagazins ‚Harper’s Bazaar‘ fotografierte der bedeutende Fotograf Richard Avedon das britische Starmodel Jean Shrimpton in einem NASA-Raumanzug. Dies dürfte Hans Hollein dazu inspiriert haben, ein Foto von Jean Shrimpton, dem damals bestbezahlten Model, im Raumanzug auf den Bauzaun von Retti anbringen zu lassen und somit wohl bis heute einen der bemerkenswertesten Bauzäune Wiens zu kreieren.
Bei der Entstehung des Geschäftslokals Retti im Jahr 1966 war die Straße davor noch für den Autoverkehr zugelassen. Erst seit 1989 ist der Kohlmarkt eine Fußgängerzone. Heute gilt der Kohlmarkt als teuerste Einkaufsstraße Österreichs und Luxusmeile Wiens. In diesem Bereich ändern sich die Geschäftsausstattungen und -portale relativ oft. Aus diesem Grund gab es immer wieder Ansinnen, das Retti-Portal samt Geschäftsausstattung zu entfernen. Aufgrund dieses enormen ökonomischen Drucks wären das bedeutende Geschäftslokal Retti und auch andere Wiener Läden von Hans Hollein schon aus dem Stadtbild verschwunden. Die Existenz der Lokale ist auf die konsequente und frühe Unterschutzstellung zurückzuführen. Der Denkmalschutz für Retti gilt bereits seit dem Jahr 1985.
Die Bedeutung des Kohlmarkts und der dortigen Bauten war Hollein sicher bewusst, als er das Retti plante. Gegenüber befindet sich das berühmte Artaria-Haus (1902) von Max Fabiani. Die bekannte Wiener Konditorei Demel, das Looshaus (1912) und das Buchgeschäft Manz (1912), beide von Adolf Loos, sowie das große Michaelerhaus liegen in unmittelbarer Nachbarschaft.
Mit Retti schuf Hollein ein gebautes Manifest. Die internationale Architekturszene hatte die Bedeutung und Qualität von Anfang an schnell erkannt. Die ersten und großen Preise kamen daher aus dem Ausland. Für den Entwurf des kleinen Kerzenfachgeschäfts in Wien wurde der damals erst 32-jährige Architekt Hans Hollein im Jahr 1966 mit dem international renommierten Reynolds Memorial Award, dem damals größten Architekturpreis, ausgezeichnet. Retti war für Holleins weitere Karriere wichtig. „Hans Hollein, a 32-year old Viennese architect, has won the annual $25,000 R.S. Reynolds Memorial Award for his design of a specialty candle shop in Vienna.“ hieß es am 24. Juli 1966 in der New York Times. Das Preisgeld für Hollein mit umgerechnet 650.000 Schilling war einst mehr, als das gesamte Geschäftslokal Retti mit Herstellungskosten von ungefähr 450.000 Schilling damals gekostet haben soll. Die Plakette dieser Auszeichnung ist heute noch im Geschäftslokal Retti erhalten.
Rund zwanzig Jahre später, im Jahr 1985, erhielt Hans Hollein einen weiteren, prestigeträchtigen Architekturpreis, den seit 1979 verliehenen Pritzker-Preis. Hollein steht damit in einer Reihe mit Preisträgern wie Philip Johnson, Luis Barragán, James Stirling, Ieoh Ming Pei, Richard Meier und nach ihm vielen Stararchitekt:innen, wie Zaha Hadid, Tadao Ando, Oscar Niemeyer, Renzo Piano, Norman Foster, Rem Kohlhaas, Richard Rogers, Jean Nouvel oder Frei Otto.
Bei der damaligen Preisverleihung stand auch Holleins Heimatstadt und ihre umfangreiche Geschichte mit Klimt, Schiele, Kokoschka, Wittgenstein, Kraus, Mahler, Freud sowie Rudolph Schindler und Richard Neutra, auf deren Spuren sich Hollein begab, im Mittelpunkt. Im Rahmen seiner Rede bei der Preisverleihung des Pritzker-Preises meinte Hollein: „Ich habe Architektur immer als Kunst betrachtet. Architektur ist für mich nicht primär die Lösung eines Problems, sondern die Abgabe einer Aussage.“ Beim Geschäftslokal Retti ist Holleins Aussage, insbesondere dank der letzten Restaurierung, beeindruckend erhalten.
Hans Hollein, der zu den Pionieren der Postmoderne gehört und international gemeinsam mit Frank Gehry, Aldo Rossi, Michael Graves, Robert Venturi und James Sterling zu den Berühmtesten dieser Epoche gezählt wird, prägte bekannte Slogans wie „Alles ist Architektur“, „Erfolg ist, Träume zu verwirklichen.“ oder „Wir geben den Menschen die Freude am Bauen zurück.“
Zu Hans Holleins (1934–2014) wichtigsten Bauten zählen das Museum Abteiberg Mönchengladbach (1982), das Museum für Moderne Kunst in Frankfurt am Main (1991), das Vulkanmuseum „Vulcania“ in Frankreich (2002) und die österreichische Botschaft in Berlin (2001). Für das Olympiadorf in München 1972 plante Hollein einen Vielzweck-Wegweiser. Das Wiener Stadtbild prägen Holleins Haas-Haus am Stephansplatz (1990), die Volksschule Köhlergasse (1990), das Flugdach am Eingang zur Albertina (2003), die Gestaltung des Michaelerplatzes (1992), sowie die kleinen Geschäftslokale Schullin I (1974), Schullin II (1982), Boutique Christa Metek (1967) und die Tabaktrafik beim Haas-Haus (1992).
Restaurierung - refurbished und reloaded
Jüngst wurde das vom einzigen Pritzker-Preisträger Österreichs als präzise und kostbare „Metallschachtel“ gestaltete kleine Geschäftslokal Retti vorbildlich restauriert und von unpassenden Einbauten und Veränderungen befreit. Die Restaurierung war, auch aufgrund der von Hollein verwendeten Materialien, eine besondere Herausforderung.
Zu den zahlreichen durchgeführten Maßnahmen zählen die Wiederherstellung des originalen Beleuchtungskonzepts samt Nachbau der Leuchtstrahler nach Originalplänen des Architekten, die Wiederherstellung des originären Schraubenbildes, die Adaptierung des Klima- und Belüftungskonzepts sowie die nicht alltägliche Restaurierung von Novopan-Spanplatten mit Resopalbeschichtung. „Uns war es wichtig, diesem ,smallest great building of its time‘ von Hans Hollein seine ursprüngliche Strahlkraft zurückzugeben“, resümieren die Hauseigentümer.
Bei der Textilausstattung wurde die Wandbespannung mit cognacfarbener Naturseide wieder angebracht. Im Zuge der Restaurierung und des Rückbaus der Holzregale trat ein winziger Rest des originalen Teppichs zutage. Dieses Fragment war die Grundlage für die Wahl des nun verlegten terrakottafarbenen Kunststoffvelours. „Das Besondere dieser Umsetzung verdankt sich der Kraft des ikonischen Werks, das Eigentümer, Planer und Denkmalschutz mit großem Respekt an einem gemeinsamen Strang hat ziehen lassen“, bestätigt Projektleiter Dietmar Tomberger von der Firma Baukultur.
Die Aluminiumfassade wirkt, obwohl schon über ein halbes Jahrhundert alt, fast wie neu. Der Werkstoff Aluminium altert und rostet nicht durch Umgebungseinflüsse, außer bei Kontaktkorrosion. Die Fassade musste daher nur fachgerecht gereinigt werden.
Ähnlich kontrastierend wie bei Retti und ebenfalls mit einer Aluminiumfassade ist auch Holleins zirka fünfhundert Meter von Retti entferntes Geschäftslokal ‚CM Boutique‘ aus dem Jahr 1967 im historischen Bestand in der Tegetthoffstrasse 3 geplant. Auch hier schuf Hollein ein winziges Geschäftslokal mit einer poppigen Fassade und Innenausstattung, das heute noch beeindruckt.
Internationale Besucher:innengruppen und Studierende pilgern schon lange nicht mehr nur zum berühmten Looshaus am Michaelerplatz, sondern auch zu Holleins kleinen und großen Schätzen in der Innenstadt.